1921 bis 1933
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Vorgeschichte
Walkemühle ist die Bezeichnung eines Gebäudekomplexes an dem Bach Pfieffe nordwestlich des Dorfes Adelshausen. Seit 1744 ist an der Stelle eine Walkmühle bekannt.[2]
Von 1921 bis 1951 befand sich hier das „Landerziehungsheim Walkemühle“.
Die alte Mühle 1907. Kolorierte Postkarte.[3]
Unter wechselnden Besitzern beherbergte die Walkemühle vor 1920 und ab 1952 diverse Gewerbebetriebe.
Arbeiter der Tuchfabrik Walkemühle in Adelshausen, 28. August 1900.[4]
Die Landstraße von Melsungen nach Spangenberg überquerte früher auf einer Brücke die Pfieffe und teilte dabei das Gelände (ca. 2,5 ha) der Walkemühle in zwei Teile. Auf dieser Karte ist die frühere Straßenbrücke nicht mehr zusehen denn es gibt dort jetzt nur noch eine schmale Fußgängerbrücke.[5]
1921 – 1933
1917 gründeten der Philosoph Leonard Nelson und die Erzieherin Minna Specht gemeinsam mit anderen denInternationalen Jugendbund (IJB). Schon1912 nahm Nelson an der Jahreshauptversammlung der Freunde deutscher Landerziehungsheime in Berlin teil. 1918 arbeitete Minna Specht im Landerziehungsheim Haubinda in Thüringen.[6] [7] [8] [9]
Die Ära Ludwig Wunder
Im Frühjahr 1921 kaufte der Reformpädagoge Ludwig Wunder die Walkemühle und eröffnete dort am 15. Mai eine Schule.[10] Anfang Mai 1922 berieten Nelson, Specht und Wunder in der Walkemühle das Konzept eines gemeinsam geführten Landerziehungsheimes. Im Juli 1922 wurde von Nelson und Anderen die Philosophisch-politische Akademie gegründet. Sie wurde Eigentümerin des Landerziehungsheimes Walkemühle. Mit generösen Spenden von Hermann Roos, eines Geschäftsmannes aus der Schweiz, konnten zwei große Gebäude auf dem Gelände der Walkemühle gebaut werden: zuerst das sog. Akademiegebäude.
Bild ca. 1922 während der Bauphase auf der Walkemühle. Im Hintergrund das sog. Akademiegebäude; im Vordergrund ist der Bauplatz für das sog. Lehrgebäude noch frei; rechts das Fachwerksgebäude der alten Mühle.[11]
Danach wurde das sog. Lehrgebäude gebaut.[12]
Das Fachwerksgebäude rechts ist die alte Mühle; Neubauten sind in der Mitte das sog. Lehrgebäude und hinten links das sog. Akademiegebäude; dahinter sind die ersten Häuser von Adelshausen zu erkennen; im Vordergrund die Landstraße. Foto nach 1922 und vor 1926.[13]
Im März 1924 bat Wunder beim Kreisschulrat in Melsungen um Zulassung von Specht als Lehrer, nachdem schon vorher Julie Pohlmann zugelassen worden war. Am 29. April 1924 schrieb Wunder an Den Preußischen Herrn Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung in Berlin einen ausführlichen Brief, in dem er bittet, ihm die endgültige Genehmigung seines seit drei Jahren bestehenden Erziehungsheimes zu erteilen.[14]
Der Brief nebst der Antwort zusammen mit einem Tages- bzw. Stundenplan der Schule ist an der eben verlinkten Stelle zu lesen.
Die Vorgänge sind weiterhin ausführlich, in fast allen Passagen übereinstimmend, beschrieben in der einschlägigen Literatur.[15] [16] [17] [18]
Die Ära Minna Specht
Ostern 1924 wurde das Landerziehungsheim Walkemühle eröffnet. Schon bald kam es zu Spannungen zwischen Wunder und den Nelsonianern.[19] Am 27. November 1924 verließ Wunder die Walkemühle unter Hinterlassung seines gesamten Privatbesitzes.[20] [21] [22] Minna Specht wurde Leiterin der Erwachsenen- als auch der Kinderabteilung bis 1931 resp. 1933.[23]
Einen Unvereinbarkeitsbeschluss bzgl. gleichzeitiger Mitgliedschaften in SPD und Internationalen-Jugend-Bund (IJB) traf der Parteivorstand der SPD im November 1925. Daraufhin wurde der Internationale-Sozialistische-Kampfbund, ISK, gegründet.[24] [25]
1926 formulierte Nelson in einem kurzen Aufsatz Über das Landerziehungsheim Walkemühle:
- Wenn ich – der Aufforderung der Redaktion folgend – von der pädagogischen Eigenart dieser Schule in dem knappen mir zugemessenen Raum überhaupt etwas sagen soll, so kann es daher nur das sein: In dieser Schule braucht man nicht zu lügen.
Dieses prägnante Motto ist der wohl am häufigsten zitierte Satz über das Landerziehungsheim Walkemühle.[26]
Am 29. Oktober 1927 starb Leonard Nelson 45-jährig in Göttingen an einer Lungenentzündung und an Überarbeitung. Er wurde auf dem Gelände der Walkemühle beerdigt wie 1929 auch sein Vater Heinrich (geboren am 9. März 1854 in Berlin, gestorben am 25. April 1929 auf der Walkemühle).
Die Gräber von Heinrich und Leonard Nelson auf dem kleinen Friedhof auf der Walkemühle. Fotomontage.[27]
Das Pädagogische Konzept
Zu Ehren von Leonard Nelson gab die Gesellschaft der Freunde der philosophisch-politischen Akademie e.V. (GFA) im Dezember 1928 eine 12-seitige Gedenkschrift heraus. Die Broschüre enthält einen Aufsatz von Berta Rode Über die Walkemühle.[28] Im Kontext des führerschaftlich[29] geführten ISK und der GFA ist dieser Text als authentische, programmatische Schrift zu beurteilen, der zentrale Aspekte der Erziehungs- und Organisationsprinzipien des ISK thematisiert.
Mit einem Appell zur Unterstützung der Walkemühle endet die Einleitung der Broschüre; sie trägt die Unterschriften der Vorstandmitglieder der Gesellschaft; d.h. von
Prof. Dr. Franz Oppenheimer,
Prof. Otto Meyerhof,
Dr. Arthur Kronfeld
und Minna Specht.
Einige Auszüge:
- In einer autoritätslosen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft sind hier [in der Walkemühle] die Lernenden – Arbeiterkinder, junge Arbeiter und Arbeiterinnen – mit ihren Erziehern vereinigt. Wie werden Unterricht und Lehensgemeinschaft ihrer Aufgabe gerecht?
- Der Unterricht der Kinder dadurch, daß die Erzieher mit den Kindern einen Stoff behandeln, den der kindliche Geist bewältigen kann, und dadurch, daß dieser Stoff von den Kindern selbständig erarbeitet wird.
- […]
- Doch der Lehrstoff ist es nicht so sehr, was die Erziehung in der Walkemühle von der anderer guter Schulen unterscheidet. Sondern der weit bedeutsamere Unterschied liegt darin, daß die Kinder alles, was sie studieren, selber beobachten und danach, gestützt auf ihre eigenen Kräfte, gestalten und verarbeiten, Worauf alles ankommt, ist das Zurücktreten des Lehrerurteils, das unbefangene Sichervordrängen der kindlichen Gedanken- und Gefühlswelt, die sich dann entfaltet und schult an der Eroberung der Umwelt. Die Hauptaufgabe des Erziehers wird hier, über der Auswahl der Aufgaben zu wachen, die Umgebung schön zu gestalten und selber sittlich zu leben.
- In ähnlicher Weise, natürlich mit entsprechend anderem Stoff, geht der Unterricht der erwachsenen Schüler vor sich. An Stelle des anderswo üblichen Vortrags tritt das selbständige Studium und die Aussprache nach sokratischer Methode, die den Schüler zwingt, seine eigenen Gedanken zu verfolgen, und die ihm zugleich die Möglichkeit gibt, gemeinsam mit den Kameraden die richtige Überzeugung zu suchen und zu finden.
- […]
- Mindestens ebenso zurückhaltend wie bei den Kindern muß der Lehrer hier [beim Unterricht für Erwachsene] mit dem eigenen Urteil sein. Denn durch den Gedächtnisdrill der heute üblichen Erziehung ist den Erwachsenen die Unabhängigkeit des Denkens bereits verloren gegangen, während es bei dem Kinde nur gilt, diese Unabhängigkeit zu erhalten und zu festigen.
- Und die Lebensgemeinschaft?
- Weil alle Lehrer und Schüler in der Walkemühle sich darin einig sind, daß sie bei hinreichender Anstrengung durch ihr wissenschaftliches Arbeiten nicht nur die Wahrheit finden können, sondern daß ihre Kraft auch ausreicht, der Wahrheit gemäß zu handeln, darum vereinigt die Lehrenden und Lernenden in dieser Schule nicht nur eine geistige Gemeinschaft, sondern zugleich eine Gemeinschaft der Tat, die darin besteht, das eigene Leben nach den erarbeiteten Erkenntnissen zu gestalten. Selber Verantwortung zu übernehmen und sich nicht einfach gängeln zu lassen von Meinungen, Sitten, Gewohnheiten oder auch von äußeren Gewalten, das ist in der Tat das Ziel und der Erfolg dieser Art von Erziehung. Kein Fleisch mehr zu essen, weil es auch ein Recht der Tiere gibt; die Kirche zu bekämpfen, weil sie das Recht des Menschen, zu einem selbständigen geistigen Leben zu erwachen, mit Füßen tritt; also gegen die Ausbeutung jeglicher Art die Kräfte anzuspannen, das ergibt sich für den in dieser Weise Erzogenen als eine unabweisbare Forderung.
- […]
- Die heute herrschende Meinung geht dahin, daß eine Erziehung zur Verantwortung nur in einer demokratisch organisierten Gemeinschaft aufgebaut werden könnte. Und doch beruht diese Meinung auf einem Irrtum.
- Man verkennt dabei, daß das Verantwortungsgefühl sich da nicht entwickeln kann, wo der zu Erziehende nicht die Möglichkeit hat, zu tun, was er für richtig hält. Wie kann ich Verantwortung übernehmen für ein Geschehen, das gar nicht von meiner Einsicht, sondern vom Willen der Gemeinschaft abhängt?
- […]
- In vernünftiger Weise kann dieses schwere Amt [des Erziehers] nur in einer führerschaftlichen Organisation geübt werden, d.h. in einer Gemeinschaft, die klar erkennen läßt, wer die Verantwortung trägt, welche Anforderungen das Amt seinem Verwalter auferlegt und wie Erfolge und Mißerfolge verwertet werden. Darum ist die Walkemühle nicht demokratisch, sondern auf dem Grundsatz der Führerschaft aufgebaut. Sie ist so zugleich der Prüfstein für die Möglichkeit einer vernünftigen Führerschaft überhaupt.
Die Hervorhebungen entsprechen dem Original.
Ob eine autoritätslose Lebens- und Arbeitsgemeinschaft in einer führerschaftlichen Organisation nicht einen Widerspruch in sich bedeutet, wurde nicht thematisiert.
Das schon zitierte Buch Geschichten von der Walkemühle von Rudolf Giesselmann ist in gering veränderter Form als PDF-Datei erhältlich. Angegebene Seitenzahlen beziehen sich auf diese PDF-Fassung. Außerdem gibt es eine HTML-Fassung, die im Folgenden der einfacheren Lesbarkeit wegen kapitelweise mehrfach verlinkt ist.
In dem 7. Kapitel wird ausführlich in persönlichen Berichten beschrieben Wie man auf die Walkemühle kam, wobei „man“ hier bedeutet: Schüler, Helfer, Lehrer.[30]
Weitere Kapitel sind mit vielen Quellenangaben versehen:
Der Tagesablauf [38] in der Walkemühle unterlag strengen Regeln. Wer z.B. zum gemeinsamen Mittagessen zu spät kam
- musste allein in der Küche essen und hatte dann anschließend noch Strafspülen; der löste dann den ab, der eigentlich dafür eingeteilt war. Wir wollten nicht gestört werden, und das war aber ein Mittel, um das zu verhindern; und das war ja auch nötig, wenn zwanzig, dreißig Erwachsene zusammen aßen, oder die zwanzig Kinder, die zum Schluss da waren.[39]
- musste allein in der Küche essen und hatte dann anschließend noch Strafspülen; der löste dann den ab, der eigentlich dafür eingeteilt war. Wir wollten nicht gestört werden, und das war aber ein Mittel, um das zu verhindern; und das war ja auch nötig, wenn zwanzig, dreißig Erwachsene zusammen aßen, oder die zwanzig Kinder, die zum Schluss da waren.[39]
Andererseits wurden den Kindern auch ungewöhnliche Freiheiten gewährt:
- Nelsons Forderung, durch größte Zurückhaltung der Lehrer die Entfaltung der Kräfte der Kinder zu fördern und ihr Vertrauen in sich selber zu stärken, bedeutete nicht, dass die Schüler als hemmungslose Wilde aufwachsen sollten. Aber man versuchte, mit einem Minimum an Regeln auszukommen und möglichst mit solchen, für die man Verständnis bei den Kindern schon fand oder im Laufe der Zeit leicht wecken konnte. Zum Teil gaben sich die Kinder selber ihre »Gesetze«, meistens auf Grund irgendwelcher als störend empfundenen Vorkommnisse oder Übergriffe. Gelegentlich wurde der Zustand »unbeschränkter Freiheit« verkündet. […] Kam der Vorschlag von den Erwachsenen, die erproben wollten, wie weit das Gemeinschaftsleben ohne Regeln und Gesetze funktioniere, oder kam er von den Kindern, die sich einmal von allen Beschränkungen frei wissen wollten? Zunächst begann ein Toben, bei dem mancher Schaden angerichtet wurde, auch von Kindern, die durchaus mit dem Wert von Sachen vertraut waren. Mehr oder weniger ruhig verfolgten die Erwachsenen den Lauf der Dinge. Aufstehen? Sich waschen? Betten machen? Schuhe putzen? Rechtzeitig zu den Mahlzeiten gehen? Bei deren Zubereitung gar helfen? – Wozu? Wir haben Freiheit! Türen schlagen, Kissenschlachten, Matratzenspringen, alle möglichen Streiche, tagelang lesen oder sonstigen Liebhabereien frönen. ... Aber dann begann das Pendel zurückzuschwingen. Der eine fühlte sich in seiner freien Betätigung gestört durch die freie Betätigung des anderen. Und schließlich wurde es auch langweilig. Man vermißte den Unterricht und den Umgang mit den Erwachsenen. Denn diese hielten sich zurück, um das Experiment nicht zu stören – soweit sie nicht aus Sorge um die kleineren Kinder dann und wann einen Blick in das Freiheitsparadies warfen. So kam das eine oder andere der Kinder mit dem Vorschlag, man wolle doch über gewisse Regeln sprechen. (Nach Jahren erzählte eines der Kinder, wie sie einmal schon längst »genug« gehabt, aber die Sache fortgeführt hätten, nachdem eine ein wenig ängstliche Lehrerin sie fragte, ob sie nicht endlich ein Ende machen wollten.)
- Nelsons Forderung, durch größte Zurückhaltung der Lehrer die Entfaltung der Kräfte der Kinder zu fördern und ihr Vertrauen in sich selber zu stärken, bedeutete nicht, dass die Schüler als hemmungslose Wilde aufwachsen sollten. Aber man versuchte, mit einem Minimum an Regeln auszukommen und möglichst mit solchen, für die man Verständnis bei den Kindern schon fand oder im Laufe der Zeit leicht wecken konnte. Zum Teil gaben sich die Kinder selber ihre »Gesetze«, meistens auf Grund irgendwelcher als störend empfundenen Vorkommnisse oder Übergriffe. Gelegentlich wurde der Zustand »unbeschränkter Freiheit« verkündet. […] Kam der Vorschlag von den Erwachsenen, die erproben wollten, wie weit das Gemeinschaftsleben ohne Regeln und Gesetze funktioniere, oder kam er von den Kindern, die sich einmal von allen Beschränkungen frei wissen wollten? Zunächst begann ein Toben, bei dem mancher Schaden angerichtet wurde, auch von Kindern, die durchaus mit dem Wert von Sachen vertraut waren. Mehr oder weniger ruhig verfolgten die Erwachsenen den Lauf der Dinge. Aufstehen? Sich waschen? Betten machen? Schuhe putzen? Rechtzeitig zu den Mahlzeiten gehen? Bei deren Zubereitung gar helfen? – Wozu? Wir haben Freiheit! Türen schlagen, Kissenschlachten, Matratzenspringen, alle möglichen Streiche, tagelang lesen oder sonstigen Liebhabereien frönen. ... Aber dann begann das Pendel zurückzuschwingen. Der eine fühlte sich in seiner freien Betätigung gestört durch die freie Betätigung des anderen. Und schließlich wurde es auch langweilig. Man vermißte den Unterricht und den Umgang mit den Erwachsenen. Denn diese hielten sich zurück, um das Experiment nicht zu stören – soweit sie nicht aus Sorge um die kleineren Kinder dann und wann einen Blick in das Freiheitsparadies warfen. So kam das eine oder andere der Kinder mit dem Vorschlag, man wolle doch über gewisse Regeln sprechen. (Nach Jahren erzählte eines der Kinder, wie sie einmal schon längst »genug« gehabt, aber die Sache fortgeführt hätten, nachdem eine ein wenig ängstliche Lehrerin sie fragte, ob sie nicht endlich ein Ende machen wollten.)
Der Text stammt aus dem Aufsatz: Gedanken über die Walkemühle von Hanna Bertholet/Fortmüller[40] Ihre Tochter Haide Fortmüller lebte von Mai 1930 bis März 1933 in der Walkemühle[41] und besuchte später auch die Nachfolgeschule in Östrupgaard (Dänemark).[42] Am 2./3. Juli 1936 notierte Nora Block beim Besuch ihres Sohnes Roger in Östrupgaard im Gästebuch:
- Der freie Mensch ist der, der keine Gesetze braucht, – aber Gesetzte hat.[43]
- Der freie Mensch ist der, der keine Gesetze braucht, – aber Gesetzte hat.[43]
Hanna Fortmüller heiratete 1937 René Bertholet, der von 1928 bis 1931 in der Walkemühle war.[44] Kaum eine andere Familie hatte derart viele Erlebnisse bzw. Erfahrungen bezüglich der Walkemühle sammeln können.[45] Zeitweilig bestand ein Kontaktverbot zwischen Mutter Hanna und Tochter Haide in der Walkemühle.[46]
Minna Specht formulierte 1942 im englischen Exil einen Rechenschaftsbericht über die Walkemühle, aus dem Hansen-Schaberg ausführlich zitiert:
- Aber sie [d.h. Specht] räumt auch Fehler besonders bezüglich der Eingriffe in die Privatsphäre der Schüler ein: Die Anforderungen an persönliche Einschränkungen – wie z.B. der Verzicht auf persönlichen Briefwechsel – die Abschließung der Schule gegen Gäste, … die fast ununterbrochene Anspannung durch Dienstleistungen, all dieses ließe sich heute auf der gesicherten Grundlage von Erfahrungen und mit größerer Selbsttätigkeit einrichten.[47]
- Aber sie [d.h. Specht] räumt auch Fehler besonders bezüglich der Eingriffe in die Privatsphäre der Schüler ein: Die Anforderungen an persönliche Einschränkungen – wie z.B. der Verzicht auf persönlichen Briefwechsel – die Abschließung der Schule gegen Gäste, … die fast ununterbrochene Anspannung durch Dienstleistungen, all dieses ließe sich heute auf der gesicherten Grundlage von Erfahrungen und mit größerer Selbsttätigkeit einrichten.[47]
Specht sah die Relevanz dieser Problematik jedoch als nebensächlich an
- dies sind psychologische Verbesserungen, die den Grundgedanken, den der moralischen Verantwortung jedes Einzelnen für die sozialistische Arbeit nicht berühren.
- dies sind psychologische Verbesserungen, die den Grundgedanken, den der moralischen Verantwortung jedes Einzelnen für die sozialistische Arbeit nicht berühren.
Das war insgesamt eine längere, wohlabgewogene schriftliche Darlegung von 1942. 1945 äußerte sich Specht wörtlich bei der ersten Begegnung mit Willi Schaper nach der Nazizeit in der Walkemühle spontan deutlicher
- Wir haben es ja auch toll genug getrieben!
Sie fügte hinzu:
- Ich hätte meine Kinder nicht in die Walkemühle gegeben.[48]
Zusätzliche Anforderungen an persönliche Einschränkungen waren Alkohol- bzw. Nikotinverbot und Bindungslosigkeit der Mitglieder des ISK in der Walkemühle. Bindungslosigkeit bedeutete dabei sowohl Verzicht auf sexuelle Kontakte als auch das Verbot etwa des brieflichen Kontaktes mit Angehörigen. Diese Anforderungen führten nicht nur zu Tränen, sondern auch zu Ausschlussverfahren aus dem ISK.[49] [50]
In einer führerschaftlich strukturierten Organisation ist das Orwellsche Prinzip All animals are equal, but some animals are more equal than others nicht nur konsequent, im ISK wurde es auch praktiziert: Ein Verstoß gegen die Bindungslosigkeit führte z.B. zum Ausschluss einzelner Mitglieder aus dem ISK. Erna Blencke zum Beispiel wurde von Willi Eichler zeitweilig aus der Organisation ausgeschlossen, weil sie eine Postkarte an einen Helfer der Walkemühle mitverfaßt hatte und dadurch das Kontaktverbot durchbrochen hatte. (Specht und Eichler führten nach dem Tode Nelsons den ISK.) [51]
Andererseits war aber die Mutter von Minna Specht, Mathilde, von 1923 bis zu ihrem Tode am 14. November 1926 in der Walkemühle gemeldet, ebenso wie ihr Neffe Heinrich von Dezember 1929 bis Ende März 1930. Darüber hinaus kam er mehrfach „in den Ferien“ in die Walkemühle. Der Vater von Leonard Nelson, Heinrich, wohnte vom Juli 1923 bis zu seinem Tode am 25. April 1929 in der Walkemühle.[52] [53] [54]
Die sich aus der Abgeschiedenheit ergebenden Konflikte bei den Erwachsenen im ISK beschrieben ausführlich Hanna Bertholet und Heiner Lindner in dem Abschnitt Die Wirkung der Nelson‘schen Lehren und deren totalitärer Charakter.[55]
Das Politische Umfeld
Die Bewohner der Walkemühle betätigen sich gemäß den Prinzipien der Gemeinschaft der Tat in den umliegenden Gemeinden politisch, was von der Obrigkeit misstrauisch beobachtet wurde. So berichtete der Landrat des Kreises Melsungen an den Regierungspräsidenten in Kassel über die Reichstagswahlergebnisse und deren Ursachen am 26. September 1930 bzgl. der Gemeinde Adelshausen:
- Stark kommunistische Einstellung, die in der Agitation des Landerziehungsheimes Walkemühle und in Personalbestände [d]er Anstalt ihre Träger hat. Dagegen fällt die vollständig negative Arbeit der NSDAP auf. Ursache: Jede Versammlungstätigkeit in Adelshausen wird von der Walkemühle und hervorragend politisch interessierten und geschulten Arbeiterschaft schlagfertig und nachhaltig diskutiert. Im Übrigen hat der frühere Leiter der Walkemühle, Oberlehrer Wunder, in Adelshausen eine im Sinne der SPD rührig tätige und gut geschulte Organisation hinterlassen, sodass es gelang, der NSDAP-Bewegung in Adelshausen »das Wasser abzugraben«.[56]
Seit dem 1.1.1932 gab der Internationalsozialistische Kampfbund in Berlin die Tageszeitung Der Funke heraus. Alle verfügbaren, freien Kräfte wurden zur Unterstützung der Parteileitung des ISK in der Redaktions- und Vertriebsarbeit in Berlin zusammengezogen., die Erwachsenenschule in der Walkemühle (Lehrer und Schüler) siedelte zu diesem Zweck fast geschlossen nach Berlin über.
Wichtige Artikel des Funken waren Dringende Appelle, nämlich als Aufruf von namhaften Persönlichkeiten vom 25. Juni 1932 zum Aufbau einer einheitlichen Arbeiterfront und der Aufruf vom 12. Februar 1933 zur Kooperation von SPD und KPD bei der Reichstagswahl vom 5. März 1933.[57]
Am 15. Juni 1932 wandte sich Minna Specht an den Regierungspräsidenten in Kassel:
- Sie werden verstehen, dass die politische Entwicklung uns mehr als in einer Hinsicht mit Sorge um die Weiterentwicklung der Schule erfüllt. Andererseits ist die Entwicklung des Landerziehungsheims auf so glücklicher Bahn, dass ich den 21 Kindern hier wünschen möchte, ihnen bliebe diese Erziehungsstätte erhalten.
Specht schließt den Brief in der Hoffnung, dass
- ein Wort von Ihnen bei denjenigen, die in unserem Landkreis die Macht für die politische Ordnung haben, eine Festigung und Beruhigung in Bezug auf die Walkemühle erzeugen wird. Ich wäre Ihnen im Interesse der ungestörten Weiterführung der Schule dankbar, wenn Sie uns diese Unterstützung gewähren würden.
- ein Wort von Ihnen bei denjenigen, die in unserem Landkreis die Macht für die politische Ordnung haben, eine Festigung und Beruhigung in Bezug auf die Walkemühle erzeugen wird. Ich wäre Ihnen im Interesse der ungestörten Weiterführung der Schule dankbar, wenn Sie uns diese Unterstützung gewähren würden.
Die umgehend formulierte Antwort des Regierungspräsidenten zeugt dagegen von Unverständnis.[58]
Die Bewohner in der Walkemühle
Die folgenden Angaben bzgl. der Aufenthaltszeiten in der Walkemühle stammen aus dem
Auszug aus dem Melderegister der Gemeinde Adelshausen, Kreis Melsungen, über die von 1921 – 1933 für die Walkemühle gemeldeten Personen,[59] das 1962 von Max Mayr erstellt wurde. In dem Verzeichnis sind die Namen von 193 Personen angeführt. (Ausführlichere Hinweise)
Mayr war lange Jahre als Häftling im KZ Buchenwald sog. Kommandiertenschreiber. Mayr bemerkte zu dem Melderegisterauszug:
- Immerhin hatte es uns schon immer gewundert, dass die Gestapo s.Zt. offenbar keinen Gebrauch davon gemacht hat, sonst wären doch viele Prozesse gegen unsere Freunde ganz gewiss kompletter gewesen und anders verlaufen.
- Immerhin hatte es uns schon immer gewundert, dass die Gestapo s.Zt. offenbar keinen Gebrauch davon gemacht hat, sonst wären doch viele Prozesse gegen unsere Freunde ganz gewiss kompletter gewesen und anders verlaufen.
Im März 1933 waren noch 36 Personen in der Walkemühle gemeldet, darunter 22 Kinder. Von den bei Wikipedia erwähnten ISK-Mitgliedern, waren viele auch zu Kursen in der Walkemühle, ohne im Einwohnermeldeverzeichnis extra eingetragen worden zu sein
Mit den seiner Zeit benutzten Bezeichnungen werden in der hier erstellten Liste einige Bewohner aufgeführt als Helfer, Schüler oder Lehrer. Helfer waren ausgebildete ArbeiterInnen bzw. Handwerker, meist Schlosser, Schreiner oder Schneiderinnen, die ohne Lohn zu erhalten in den Werkstätten der Walkemühle für den Eigenbedarf des Landerziehungsheims arbeiteten, aber insbesondere auch den Schülern handwerkliche Grundfertigkeiten beibrachten; manche Helfer nahmen zeitweise zusätzlich an Kursen für die erwachsenen Schüler teil. Schüler waren einerseits schulpflichtige Kinder, teilweise noch im Kindergartenalter; andererseits erwachsene Berufstätige. Erwachsene Schüler mussten ebenso wie die Helfer über aktive politische Erfahrungen verfügen, etwa in Gewerkschaften, im Arbeiter-Abstinenten-Bund oder im Freidenkerverband bevor sie ausgewählt von den Ortsvereinen des ISK in die Walkemühle kommen konnten mit dem Ziel später als Funktionäre des ISK zu arbeiten.
In einer Liste sind neben den Meldezeiten in der Walkemühle noch wenige Angaben über spätere politische bzw. berufliche Betätigung angeführt. Hinweise zu Emmigration resp. zu Verfolgung während der Nazi-Zeit fehlen auf diesen Seiten. Zu einigen der Genannten gibt es Biografien, deren bibliografische Daten über den jeweiligen Link bei WorldCat leicht erhältlich sind. Durch Eingabe des betrachteten Namens sind ebenfalls zusätzliche Informationen zu finden. Zu fast allen der nun Genannten finden sich auch bei Rüther [60] teilweise sehr ausführliche biografische Hinweise.
Als Lehrer sind erwähnt
- Fritz Eberhard, geb. Hellmuth Freiherr von Rauschenplat,
- Willi Eichler,
- Wilhelm Fuhrmann,
- Paul Goosmann,
- Gustav Heckmann,
- Grete Henry-Hermann,
- Hans Lewinski,
- Julie Pohlmann,
- Minna Specht,
- Liselotte Wettig,
- Ludwig Wunder.
Als Helfer und Schüler sind erwähnt
- Hermann Beermann,
- René Bertholet,
- Alexander Dehms,
- Allan Flanders,
- Hanna Fortmüller/Bertholet,
- Werner Hansen, geb. Wilhelm Heidorn,
- Mascha Oettli,
- Nora Platiel, geb. Eleonore Block,
- Willi Schaper,
- Hellmuth Schmalz,
- Nora Walter,
- Willi Warnke.
Hinweise
Hinweise zu
Einzelnachweise
- ↑ Foto: Nachlass Schaper; auch UB Kassel und Archiv der sozialen Demokratie: 6/FOTA029482.
- ↑ Bergmann, Schulz, S. 107.
- ↑ Privatbesitz Ralf Schaper.
- ↑ Foto: Museumslandschaft Hessen Kassel, Volkskundesammlung, Inv.Nr. 72 i 302.
- ↑ Link, S. 109, Fn. 41
- ↑ Heckmann
- ↑ Link, S.39.
- ↑ Klär, S. 313 ff.
- ↑ Hansen-Schaberg, S. 34.
- ↑ Wunder, S. 65.
- ↑ Archiv der sozialen Demokratie: 6/FOTB062262.
- ↑ Hansen-Schaberg, S. 36 ff.
- ↑ Foto: Nachlass Schaper; auch UB Kassel und Archiv der sozialen Demokratie: 6/FOTA033584.
- ↑ Ziechmann, S. 105.
- ↑ Hansen-Schaberg, S. 39 ff.
- ↑ Link, S. 109 ff.
- ↑ Wunder, S. 68 ff.
- ↑ Ziechmann, S. 104.
- ↑ Wunder, S. 105.
- ↑ Ziechmann, S. 105.
- ↑ Hansen-Schaberg, S. 41.
- ↑ Wunder, S. 72.
- ↑ Hansen-Schaberg, S. 44 ff.
- ↑ Klär, S. 316 ff.
- ↑ Link, S. 91 ff.
- ↑ Nelson, 1971, S. 575 ff.
- ↑ Fotomontage aus zwei kleinen Bildern.
- ↑ Der Text ist in der Rubrik Dokumente vollständig zu finden.
- ↑ In der damaligen Diktion hieß der Vorsitzende des ISK gemäß Satzung Führer und hatte allein entscheidende Kompetenzen.
- ↑ Giesselmann, S. 24.
- ↑ Giesselmann, S. 69.
- ↑ Giesselmann, S. 73.
- ↑ Giesselmann, S. 30.
- ↑ Giesselmann, S. 53.
- ↑ Giesselmann, S. 38.
- ↑ Giesselmann, S. 34.
- ↑ Giesselmann, S. 48.
- ↑ Giesselmann, S. 69.
- ↑ Giesselmann, S. 48
- ↑ Bertholet, Hanna, S. 275 f.
- ↑ Mayr, S. [6].
- ↑ Nielsen
- ↑ Nachlass Minna Specht im Archiv der sozialen Demokratie. Aus dem Leben des Schullandheims Östrupgaard, 1/ MSAE000087
- ↑ Mayr, S. [5].
- ↑ Mayr, S. [6].
- ↑ Hansen-Schaberg, S. 52, F. 156.
- ↑ Hansen-Schaberg, S. 190 ff.
- ↑ Schaper, Willi, S. 79.
- ↑ Behrens-Cobet, S. 19.
- ↑ Hansen-Schaberg, S. 52, F. 156.
- ↑ Behrens-Cobet, S. 19.
- ↑ Mayr
- ↑ Hansen-Schaberg, S. 39, F. 102.
- ↑ Schiemann, S. 356.
- ↑ Lindner, S. 27 ff.
- ↑ HStAM, 180 Melsungen, 2405. Nach dem aktuellen Suchsystem der Hessischen Staatsarchive hat diese Akte die Signatur HStAM, 166, 6437.
Bei Giesselmann und Ziechmann wird die Akte folgendermaßen zitiert:
Sonderakten des Regierungspräsidenten zu Kassel betr. das Erziehungsheim Walkemühle, Kreis Melsungen, Band I (1924 - 1934) im Staatsarchiv Marburg, Bestand 166/6437.
HStAM, 180 Melsungen, 2405
Örtliche politische Bewegungen, 1930
HStAM, 180 Melsungen, 3729
Landerziehungsheim Walkenmühle (Walkemühle), 1932-1937.
„Enthält: Schließung des Heims wegen kommunistischer Tendenz sowie Beschlagnahme der Mühle für die Neueinrichtung als Führerschule“; durchgehend nummeriert.
HStAM, 223, 32
(Verhandlungen über die beschlagnahmte) Bibliothek der „Philosophisch- Politischen Akademie der Walkemühle“ bei Melsungen, 1934 – 1950.
HStAM, 330 Melsungen, B 2434
Durchführung von Aufräumungsarbeiten in Schulgebäuden sowie bei der Walkemühle durch ehemalige Angehörige der HJ, 1945 – 1945. - ↑ Link, S. 146.
- ↑ HStAM, 180 Melsungen 3729, Blatt 4, 4v. Die Blätter sind in diesem Abschnitt zu sehen.
- ↑ Mayr
- ↑ Rüther, S. 551-630.